Unser Körper verfügt über viele Systeme, die ohne unser Zutun lebenswichtige Abläufe regulieren wie z.B. das Herz-KreislaufSystem, das Verdauungssystem und das Hormonsystem. Der Begründer der „Cranialen Osteopathie“, Dr. Sutherland, entdeckte in den 30er Jahren ein weiteres unwillkürlich arbeitendes System im Körper, das „Craniosacrale System“. Dieses System besteht aus den knöchernen Strukturen des Schädels (Cranium) und des Kreuzbeins (Sacrum), dem physiologischen System der Gehirn- und Rückenmarkshäute, das sich vom Schädel durch den Wirbelkanal erstreckt, sowie der fluktuierenden Cerebrospinalflüssigkeit, auch Liqour genannt. Die Membranen sind in ihrer äußeren Haut mit den Schädelknochen, dem 2./3. Halswirbel und dem Kreuzbein verbunden und umgeben mit ihrer inneren Haut das empfindliche Zentralnervensystem – Gehirn und Rückenmark –, den innersten Kern unseres Körpers schützend. Innerhalb dieser Membranen fluktuiert der Liquor. Durch den dem Liquor innewohnenden Flüssigkeitsantrieb entsteht eine rhythmische Bewegung, die auch „primäre Atmung“ genannt wird. Diese Bewegung breitet sich über das Bindegewebe aus, massiert im gesunden Organismus sozusagen jede einzelne Zelle. Für das Auge nicht sichtbar, ist sie für geübte Hände am ganzen Körper spürbar. Füllt sich das System, ist eine Ausdehnung des Körpers, beim Leeren oder Ausatmen des Systems ein Zusammengehen wahrnehmbar.
„... die cerebrospinale Flüssigkeit ist das höchste bekannte Element im Körper.“
Dr. Still - Begründer der Osteopathie
Das Craniosacrale System ist das erste selbstständig funktionierende System des Embryos im Mutterleib und es ist das letzte System, das im Sterbeprozeß aufhört zu arbeiten. Im Verlauf seiner vieljährigen Studien stellte Dr. Sutherland fest, dass er nicht „nur“ ein weiteres mechanisches unwillkürliches System des Körpers entdeckt hatte, sondern den fundamentalen Selbstregulations- und Selbstheilungsmechanismus des Körpers, den Träger der Lebenskraft. Hierbei sprach er dem Liquor besondere Bedeutung zu. Für ihn ist diese Flüssigkeit der Träger des „Breath of Life“ des „Atems des Lebens“, „den Gott in den zum menschlichen Körper geformten Ton hauchte und der Ton so zu einer lebenden Seele wurde“ (Sutherland). Hier ist nicht Luft und Sauerstoff gemeint. Sutherland spricht von einem darunterliegenden, inneren Atem, der im Kern des Körpers aufsteigt und die Cerebrospinalflüssigkeit bewegt, welche das Hirn- und das Rückenmark schützend umgibt, nährt und rhythmisch wiegt. Er erkannte die Cerebrospinalflüssigkeit als Trägerstoff für die Potenz von Gesundheit und Lebenskraft. Die Gesundheit, von der Sutherland spricht, liegt im Kern unseres Wesens. Sie kann nicht verringert oder vermehrt werden, sie kann nicht erkranken und ist immer zugänglich.
Die Wellen des Ozeans – Der Craniosacrale Rhythmus
Wie können wir denn mit dieser Potenz im Liquor in Kontakt treten? Wie erwähnt sind die Bewegungen des primären Atemsystems spürbar. Sie weisen unterschiedliche Qualitäten und Tiefen auf. Wir können mit einem Rhythmus Kontakt aufnehmen, der 6-12 mal die Minute das Ausdehnen und Zusammengehen des Körpers verursacht. Diese Fluktuation wird auch „Craniosacraler Rhythmus“ genannt. Wäre der Liqour das Wasser eines Ozeans, hätte diese rhythmische Bewegung der Flüssigkeit die Qualität der Wellen, die an den Strand gespült werden. Hierbei können wir spüren, wie die einzelnen Knochen, Membrane und Gewebe von der Welle des Liquors bewegt werden, oder dass bei Störungen einzelne Teile des Körpers die Fluktuation eben nicht weiterleiten. Wir sind in Kontakt mit der Pathologie und dem Trauma des Patienten. Die meisten heutigen Craniosacralausbildungen lehren auf der Grundlage des Craniosacralen Rhythmus, es ist der sogenannte „Biomechanische Ansatz“.
Wir müssen unseren Focus von Krankheit auf Gesundheit verlegen
Wollen wir uns mit der Potenz von Gesundheit im Patienten verbinden, dürfen wir uns nicht nur auf Krankheit und Störung im System fokussieren. Wir müssen uns auf den Fluß der Flüssigkeit innerhalb des gesamten Systems und den darin wirkenden Kräften von Gesundheit einstimmen. Hatten unsere Hände vorher Kontakt mit den Strukturen, die von den Wellen des Ozeans bewegt werden, nehmen unsere Hände jetzt die Flüssigkeitsbewegungen als Ganzes war. Wir tauchen unter die Wellen des Ozeans, wo die Selbstregulierung des Systems angelegt ist. Diese rhythmische Bewegung entspricht eher den Gezeiten, Ebbe und Flut, des Ozeans. Die Kraft, die uns in den Gezeiten zur Verfügung steht, ist sehr viel größer als in den Wellen. Der Rhythmus dieser Bewegung, auch „mid tide“ oder „potency tide“, ist mit ca. 2,5 Zyklen pro Minute sehr viel langsamer als der Craniosacrale Rhythmus. Es ist ein in Kontakt sein mit der gesamten Biosphäre des Patienten, mit seiner Gesamtheit, mit seiner Pathologie und seiner Gesundheit. Hierzu muß unser Verstand stiller werden, der Raum, den wir dem System geben, sehr viel weiter und unsere Absicht absichtslos. Auf dieser Ebene gilt es für den Therapeuten den Raum zur Entfaltung der im System des Patienten angelegten Selbstregulierung zu unterstützen und zu vergrößern. Wir werden zum Assistenten der im Körper des Patienten wirkenden Selbstheilungskräfte.
"Ein Mensch wird krank, wenn er den Wind nicht mehr durch sich wehen lassen kann .."
Auf einer noch tieferen Ebene des Systems, der sogenannten „long tide“ kommen wir in Kontakt mit noch tiefer organisierenden Kräften. Wir kommen in Kontakt mit dem „Atem des Lebens“ selbst. Der hier wahrnehmbare Rhythmus hat eine Pulsation von ca. 6 Zyklen in 10 Minuten. Im Bild des Ozeans gesprochen, befinden wir uns hier auf der Ebene der tiefen Strömungen, noch unterhalb der Bewegung von Ebbe und Flut. Bei den Aboriginals heißt es, dass ein Mensch krank wird, wenn er den Wind nicht mehr durch sich wehen lassen kann. Auch im Zustand von Krankheit ist es möglich, den Patienten wieder in Kontakt mit seiner Gesundheit zu bringen und den Ausdruck des Atems des Lebens erfahren zu lassen, sozusagen den Wind wieder durch ihn wehen zu lassen.
Auf dieser Ebene fühlt sich der Patient vollkommen friedvoll und ausbalanciert, auch wenn seine Physiologie ansonsten in Aufruhr ist.
Die Arbeit auf der Ebene der tieferen Rhythmen und Gezeiten des Systems entspricht dem biodynamischen Ansatz in der Craniosacralen Arbeit. Seit ein paar Jahren bekommt dieser ressourcen- und flüssigkeitsorientierte Ansatz sowohl in der Osteopathie als auch in der Craniosacralen Therapie wieder ein stärkeres Gewicht. Es ist unerlässlich, in der Craniosacralen Arbeit so genau wie möglich über die Biomechanik des Craniosacralen Systems, die Bewegung der Knochen, Membranen usw. Bescheid zu wissen. Und genauso unerläßlich ist es, die biodynamischen Kräfte dieses Systems, die dem System innewohnende Potenz zur Selbstregulierung zu verstehen und zu lernen, wie wir uns als Therapeuten mit dieser Potenz in uns und in unseren Patienten verbinden können und „der physiologischen Potenz des Körpers erlauben, seine unfehlbare Potenz zu manifestieren, anstatt blinde Kräfte von außen zu benutzen“ (Sutherland). Der menschliche Körper ist mehr als ein Auto, das ein gut ausgebildeter Mechaniker mit guten Techniken wieder reparieren kann. Es ist ein lebendiger Organismus, der uns als Therapeuten und dem Patienten auch im Zustand von Krankheit und Dysfunktion alle Ressourcen zur Verfügung stellt, um Gesundheit wieder herzustellen.